Sichtbar auf TikTok – auch ohne Gesicht: Strategien für politische Bildung und zivilgesellschaftliche Akteur*innen
von Johanna Balsam
Vertikalvideoplattformen pushen das Zeigen des eigenen Gesichts – besonders TikToks sind genau darauf getrimmt. Was einerseits Nahbarkeit und Authentizität suggerieren soll, wird für viele Menschen auch zum Sicherheitsrisiko – oder ist von Vereinen oder Gruppen einfach nicht gewünscht. Hier kommen 8 Tipps, um Vertikalvideos zu produzieren, ohne das eigene Gesicht in den Fokus zu stellen.
Wischt man durch die For-You-Page auf TikTok schaut man in … jede Menge Gesichter! Sie sind überall, sprechen direkt in die Kamera, machen sich Snacks oder Kaffee, erzählen scheinbar nebenbei etwas – oder performen Tanz und Rollenspiele. Ein Video zu finden, in dem nicht das menschliche Gesicht im Mittelpunkt steht, ist da gar nicht so leicht!
Diese Zentrierung auf Gesichter ist Fluch und Segen zugleich. Das eigene Gesicht in die Kamera zu halten ist erstmal technisch unkompliziert, es schafft Nähe und vermeintliche Authentizität. Das Herstellen von Augenkontakt an sich stellt schon eine Art Hook dar, die die Aufmerksamkeit bei Zuschauenden erhöht und das Scrollen unterbricht. Und klar, von einer realen Person ihre eigene Meinung, Geheimtipps, Witze oder schlaue Gedanken geteilt zu bekommen, scheint oft harmlos und ist relatable.
Andererseits stellt genau diese Erzählweise für viele eine große, wenn nicht gar unüberwindliche Hürde dar, um selbst auf Social Media sichtbar zu werden.
Andererseits stellt genau diese Erzählweise für viele eine große, wenn nicht gar unüberwindliche Hürde dar, um selbst auf Social Media sichtbar zu werden. Gerade queere und trans Personen, People of Color, Menschen mit Behinderungen, Juden*Jüdinnen, oder Frauen erleben online Beschimpfungen und Bedrohungen. Oft sind diese verpackt in menschenverachtende Ideologien und dienen als Steilvorlage für Angriffe durch weitere Trolle. Die steigende Anzahl von Möglichkeiten, mit KI Videos und Audios zu manipulieren lädt auch nicht gerade dazu ein, Daten zum eigenen Gesicht oder auch nur die eigene Stimme online freizugeben.
Aber auch wenn Personen einfach kein Bedürfnis nach eigener Präsenz auf Plattformen wie TikTok haben oder ein Account nicht auf Einzelpersonen, sondern auf einen Verein oder eine Gruppe ausgerichtet ist, wird es schwierig. Aber was tun? Wie können engagierte Einzelpersonen oder auch zivilgesellschaftliche Vereine ihre Belange auch auf TikTok oder in Reels sichtbar machen, trotz und gerade wegen zunehmender Präsenz von rechten Inhalten und Desinformation?
Die Frage stellt sich besonders für alle, die auch junge Zielgruppen mit den eigenen Inhalten erreichen wollen, denn mindestens jede 2. Person unter 19 Jahren nutzt inzwischen einen TikTok-Account, wie die JIM-Studie von 2024 zeigt.
Doch es geht auch anders: Immer mehr kreative Accounts zeigen, dass erfolgreiche Inhalte auch ohne Gesichter funktionieren. Hier sind 8 Ideen, wie ihr auf TikTok und Co. sichtbar werdet – ohne euch selbst in den Mittelpunkt zu stellen.
Vorüberlegung: Wie – und warum – eigentlich TikTok?
Wieso wollt ihr TikTok oder Instagram nutzen, wer ist eure Zielgruppe? Überlegt euch eine Kanalstrategie. Wie erkennen User*innen eure Inhalte und euren Kanal wieder, wenn sie kein Gesicht als Erkennungsmerkmal sehen? Worum geht´s? Wer soll angesprochen werden? Sollen vor allem Wissensvermittlung oder das Schaffen von Awareness im Zentrum stehen? Werden Vertikalvideos ein Teil eurer ÖA-Strategie oder ist der Videoaccount eher ein spaßiger Nebenschauplatz? All diese Fragen helfen euch zu entscheiden, wie eure Videos wirken sollen und welche Kompromisse ihr eingehen müsst oder wollt, wenn ihr auf diesen Plattformen Videos veröffentlicht. In jedem Fall gilt: Große Themen möglichst aufschlüsseln, klare und einfache Sätze verwenden, Mut zu Spaß, Ironie und DIY. Der Mix macht’s! Außerdem: Trends gern zur Inspiration nutzen. Wenn ihr kein Gesicht als Wiedererkennungsmerkmal zeigt, gleicht das durch eine klare Kanalstrategie aus – so erkennen User*innen trotzdem eure Inhalte und euren Kanal wieder.
1: Screen-Recordings mit Voice-Over
Screen-Recordings sind perfekt, um komplexe Themen zu erklären, ohne selbst vor die Kamera zu müssen – vorausgesetzt, es gibt schon passende Inhalte, die ihr zu eurem Thema aufzeichnen könnt. Zeigt euren Bildschirm, während ihr durch Websites navigiert, Grafiken erklärt oder Tools demonstriert. Oder scrollt durch problematische Social Media Posts und erklärt dabei, woran man Desinformation erkennt. Der Bildschirm wird zum Main Act, eure Stimme führt durch die Inhalte. Viele kostenlose Tools wie OBS Studio oder das in Smartphones integrierte Screen-Recording machen das möglich.
2: Requisiten & Handpuppen – nicht nur im Kinderzimmer
Das eigene Gesicht kann auch durch andere Gesichter oder Gegenstände ersetzt werden – so haucht ihr Handpuppen, Pflanzen oder Tieren per Inszenierung und Synchronstimme Leben ein. Auch wenn es erstmal albern klingen mag, so erzeugen sie teilweise ganz eigene Interaktionen oder Situationskomik – und manchmal funktioniert gerade sowas auf den Plattformen dann überraschend gut.
3: Typografie-Videos – Tanzende Schrift
Animierte Texte können kraftvoll und dynamisch sein – besonders bei gesellschaftspolitischen Themen. Lasst Statistiken über Diskriminierung aufploppen, wichtige Zitate in verschiedenen Schriftarten und -größen erscheinen, oder baut Wortspiele visuell auf. Tools wie Canva oder die Open Source Alternative OpenShot bieten Textanimationen. Wichtig: Haltet die Texte kurz und prägnant, nutzt Kontraste und bedenkt, dass viele TikToks lautlos geschaut werden.
4: Hands on – Handwerk als Storytelling
Eure Hände können sprechen! Zeigt, wie ihr ein Zine bastelt und erklärt dabei Meinungsfreiheit. Kocht ein Gericht aus eurer Community und sprecht über kulturelle Vielfalt. Zeichnet Diagramme zu gesellschaftlichen Problemen. Der Trick: Die Hände führen die Handlung aus, halten die Aufmerksamkeit, während eure Stimme den Kontext liefert. Das sorgt für Nahbarkeit, ohne dass ihr euer Gesicht zeigen müsst.
5: Video-Memes – Politische Botschaften mit Humor verpacken
Memes sind die Sprache des Internets – nutzt sie, um eure Inhalte lustig und schlagfertig zu verbreiten! Nehmt bekannte Meme-Formate und füllt sie mit euren politischen Botschaften. Die Meme- und Remix-Kultur ist besonders interessant, wenn man sich mit Audiosnippets und trendenden Videomemes ausprobiert. Wichtig: Lernt eure Zielgruppen und deren Meme-Kultur kennen, bleibt respektvoll und nutzt aktuelle Formate.
6: KI-Videos – Chancen und Grenzen
KI-Tools können helfen, anonyme Avatare zu erstellen oder eure Stimme zu verändern. Auch das Generieren von Hintergründen oder das Animieren von Standbildern ist möglich. Aber Vorsicht: kennzeichnet immer, wenn ihr KI nutzt. Das ist zwar leider nicht Pflicht, aber bedenkt die ethischen Fragen – von Urheberrecht bis hin zur Gefahr von Deepfakes. Open Source-Alternativen wie RunwayML bieten oft transparentere Lösungen als kommerzielle Tools. Nutzt KI, um eure eigenen Ideen sichtbar zu machen – nicht, um Inhalte vollständig von der KI erzeugen zu lassen. Die Technik kann unterstützen, aber die Perspektive und Haltung sollten von euch kommen.
7: Community einbeziehen
Fragt eure Follower*innen in den Kommentaren nach Themen, oder ihrem Bezug, ihrer Meinung zum Thema. Nutzt deren Fragen und ihr Feedback für neue Videos. Auch ohne euer Gesicht zu zeigen, könnt ihr authentische Beziehungen aufbauen – durch konsistente Stimme, wiederkehrende visuelle Elemente oder einen charakteristischen Humor.
8: trial and error – and try again!
Social Media Creator*innen wissen teilweise selbst nicht, warum welche Videos viral gehen oder nicht. Aber mit ein bisschen Zeit und Freude am Ausprobieren bekommt ihr ein Gefühl dafür, welche Videos besonders viel Aufmerksamkeit bekommen. Und es spricht auch nichts dagegen, das selbe Thema in unterschiedlichen Versionen in den Feed zu schicken und zu schauen, was besser funktioniert. Die TikTok Analytics zeigen euch, welche Formate bei eurer Zielgruppe ankommen. Aber messt nicht nur Views – Kommentare, Likes und Shares sind oft aussagekräftiger für gesellschaftspolitische Inhalte.
Einige dieser Ideen probieren wir gern mit euch in unserem neuen Fortbildungsformat “TikTokTactics” live aus – für Organisationen der Berliner Zivilgesellschaft sogar kostenlos. Schreibt uns und bucht unser Angebot unter tiktokslam.berlin/tactics
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