„Boah ihr Mäuse“ – Rückblick auf die TikTok-Bundestagswahl 2025
von Johanna Balsam
Am 12. März 2025 fand der erste Creator.Salon des Jahres im Rahmen unseres Projekts TikTokSlam statt. Mit dem TikTok-Experten Marcus Bösch wagten wir einen analytischen Blick auf die digitalen Strategien der Parteien im zurückliegenden Bundestagswahlkampf. Zwischen Busfahrer-Grüßen, „left brainrot“ und Torten-Content wurde klar: Die #BTW25 spielte sich wie keine zuvor auf den Kurzvideoplattformen ab. Und bei fast 100 Anmeldungen merkten wir auch: Das Interesse an Austausch und Einordnung innerhalb der demokratischen Zivilgesellschaft ist riesig.
Die Bundestagswahl 2025: Eine TikTok-Wahl
In seinem Input betonte Marcus Bösch gleich zu Beginn: „Diese Wahl war eine TikTok-Bundestagswahl.“ Tatsächlich haben alle Parteien die Plattform auf verschiedenen Ebenen produktiv genutzt, um insbesondere junge Menschen und Erstwähler:innen zu mobilisieren. Die Zahlen sprechen für sich: Die Parteien veröffentlichten durchschnittlich 1,54 Videos pro Tag und Partei und sind damit endgültig auch auf der Plattform TikTok angekommen.
Für seine Analyse nutzte Bösch einen Mixed-Methods-Ansatz. Damit berücksichtige er sowohl quantitative Daten zu Reichweite und Engagement der offiziellen Parteiaccounts und der Spitzenkandidat*innen, als auch qualitative Analysen plattformspezifischer Strategien. Dabei bezog er sich nur auf Videos, die zwischen dem 1.1.2025 und dem 23.2.2025 gepostet wurden.
Parteien auf TikTok: Von Spätzündern und überraschenden Erfolgen
Die Parteien-Analyse zeigte ein vielfältiges Bild: Während die SPD beispielsweise erfolgreich, wenn auch relativ spät, mit Creator @brooklyn kooperierte (bekannt für seine „OLAF SCHOLZ!“-Rufe) und aktuelle Trends wie den „Busfahrer-Gruß“ aufgriff, versuchte die CDU mit dem Hashtag #wholesome einen emotionaleren Zugang zum sonst oft eher steif rüber kommenden Friedrich Merz zu schaffen – allerdings mit mäßigem Erfolg. Insgesamt wurden die Versuche der Spitzenpolitiker von CDU/CSU auf TikTok eher als “hölzern” wahrgenommen. Robert Habeck setzte unterdessen auf längere, differenzierte Videos und widerlegte damit die vielbehauptete TikTok-Regel ”nur kurz geht viral” – sein erfolgreichstes Video dauerte ganze acht Minuten! Christian Lindners TikTok Account hingegen profitierte, gemessen an Views, ausgerechnet vom Torten-Wurf-Video am meisten, was jedoch den anderen Videos der FDP nicht zu mehr Sichtbarkeit verhalf. Auf die Frage, woran dies läge, erklärte Marcus Bösch die Funktionsweise des TikTok eigenen Empfehlungssystems. Da jedes Video zuerst zufällig einer kleineren Gruppe an Menschen gezeigt wird und dann je nach Likes immer mehr Menschen ausgespielt wird, können auch einzelne Videos viral gehen. Beim nächsten Video kann es jedoch schon wieder ganz anders aussehen, sodass ein virales Video seinen Creator*innen nicht zwingendermaßen zu mehr Ruhm bzw. Followern verhilft.
Interessant war auch der genauere Blick auf die TikTok-Überraschungsstars dieser Wahl von der Linken: Heidi Reichinnek, der mit glaubwürdiger direkter Ansprache (ihr „Boah ihr Mäuse“ wurde viel zitiert und analysiert), gut recherchierten Faktenvideos auf der einen und emotionalen Rants auf der anderen Seite eine authentische Ansprache verschiedener Zielgruppen gelang erwies sich als TikTok-Naturtalent. Gerade bei jungen Menschen war ihr Content besonders beliebt und schuf eine regelrechte Heidi-Euphorie. Die hatte sicher ihnen Anteil an den vielen Neueintritten und dem ersten Wahlplatz der Partei in der Gruppe der Erstwähler*innen. Damit gelang es der Linken auch, die im letzten Sommer viel diskutierte Beliebtheit der AfD unter Erstwähler*innen einzuschränken. Die AfD und Alice Weidel folgten mit weiterhin hohen Likes und Reposts, erlangten aber vor allem auf Grund ihrer sehr aktiven Anhänger*innenschaft, die kommentiert, eigene Edits und Videocontent im Namen der Partei erstellt, sowie Bot-gesteuerten Accounts, mehr Reichweite.
Natürlich konnte der Referent innerhalb des Creator.Salons nur begrenzt Videobeispiele, Accounts und Strategien analysieren, aber insgesamt wurde gut verdeutlicht, wie verschieden die Herangehensweisen unterschiedlicher Akteur*innen an die Plattform waren – von irgendwie hölzernen Auftritten, versuchter Jugendlichkeit bis zu eher nahbaren Ansprachen, von inhaltlichem Tiefgang bis zur reinen Inszenierung war alles dabei. Mit einer Auswertung der Engagement-Rate (Anzahl der Likes + Kommentare + Shares geteilt durch Reichweite x 100) zeigte Bösch schließlich auf, dass im Bundestagswahlkampf auf TikTok Die Linke, die AfD und Robert Habeck besonders gut abschnitten.
Partizipatorische Propaganda in der Plattform-Ära: Die entscheidenden Faktoren
Da das Projekt TikTokSlam darauf abzielt, Akteur*innen der Zivilgesellschaft zu vernetzen und die Sichtbarkeit ihrer Inhalte auf Kurzvideoplattformen zu erhöhen, war eine zentrale Frage im Creator.Salon auch, mit Hilfe welcher Strategien andere Creator*innen aus der demokratischen Zivilgesellschaft politische Botschaften auf TikTok verbreiteten. Dieses Themenfeld, beschrieb Marcus Bösch, sei leider weiterhin ein eher vernachlässigtes Forschungsfeld. Er führt dazu den Begriff der “partizipatorischen Propaganda“ ein, um zu beschreiben mit welchen Effekten Creator*innen Videos von Politiker*innen übernehmen, remixen oder editieren und weiterverbreiten und ihnen so teilweise zu unverhoffter Reichweite verhelfen.
„Wir leben in einer neuen Plattform-Ära“, betonte Bösch. „Es gibt nicht mehr einen einzelnen Sender, sondern alle auf der Plattform sind potenzielle Sender*innen.“ In diesem Kontext sei „partizipatorische Propaganda“ – das gemeinsame Handeln und aktive Mitwirken an der Verbreitung politischer Inhalte – der Schlüsselfaktor für Erfolg auf TikTok. Ein zentrales Konzept dabei sind die „TikTok-Affordanzen“ – also plattformspezifische Formate, Funktions- und Interaktionsweisen, die von Unterstützer*innen-Accounts meist schneller und intuitiver genutzt werden als von offiziellen Accounts. Als Paradebeispiel präsentierte er den viral gegangenen Sound einer Jan van Aken-Rede („Das Problem heißt nicht Migration, es heißt Männer“), der besonders von FLINTA-Personen aufgegriffen und per Lipsync verbreitet wurde. Das Originalvideo hingegen stammt von einem relativ unbekannten Account der Linken Wiesbaden.
#ReclaimTikTok: Kreative Gegenstrategien zu rechten Narrativen
Ein besonders spannendes Thema im Vortrag war Böschs Analyse zu Gegenstrategien gegen die Dominanz rechter Inhalte auf TikTok. In seinem regelmäßigen Newsletter hatte er bereits im Februar unter dem Titel „Mission accomplished: TikTok reclaimed“ verschiedene kreative Ansätze dokumentiert.
„Nach der umfangreichen Medienberichterstattung über die Dominanz der AfD auf TikTok waren 2024 mehrere Gegenbewegungen zu beobachten, meist unter dem Hashtag #ReclaimTikTok, der mittlerweile über 70.000 Posts umfasst“, schreibt Bösch. Demokratische Creator*innen hätten eine steile Lernkurve bei plattformspezifischen und memegetriebenen Verstärkungsstrategien gezeigt.
Als Beispiele nannte er:
- German Brainrot: Politisch aufgeladene Varianten des absurden „Germanrot“-Trends, bei dem 3D-animierte Tiere mit deutschen Stimmen zu sehen sind. Ein Account namens @germanbrain2 nutzt dieses Format, um mit einer Taube im Badezimmer die Widersprüche zwischen Alice Weidels Lebensstil und dem AfD-Parteiprogramm zu thematisieren.
- Remixe mit Harald Glööckler: Der Account @glockeler.gegen.rechts schneidet Videos des Modeschöpfers so, dass es aussieht, als würde er auf AfD-Politiker reagieren – gut gemachtes Editing mit hohem Unterhaltungswert.
- Deutsche Sound-Propaganda: Da TikTok eine soundgetriebene Plattform ist, entstehen immer mehr politische Protestsongs, wie die Kritik an Friedrich Merz durch den User @KeMax, die dann teilweise massenweise von anderen User*innen in ihren Videos verbreitet werden.
„All diese Beispiele zeigen kreative und plattformspezifische Formen politischer Kommunikation außerhalb vorgegebener Strukturen“, so Bösch. „Sie demonstrieren, wie TikTok als wichtiger dritter Raum für den politischen Diskurs fungiert, der sich ständig weiterentwickelt.“
Praxisteil: Eigene Videoprojekte im Fokus
Im zweiten Teil des Creator.Salons hatten zivilgesellschaftliche Organisationen und Vereine die Gelegenheit, ihre eigenen Social-Media-Strategien und Kurzvideoprojekte zu besprechen und sich gegenseitig zu beraten. Eine Person berichtete von den ersten veröffentlichten Videos. Erstaunlicherweise sei das Video, das schnell und im Affekt aufgenommen wurde, wesentlich besser angekommen, als ein ausführlich geplant und gescriptetes Video. Daran schloss die Frage an, wie auch TikTok-Videos produziert werden könnten, die nicht zentral mit dem eigenen Gesicht arbeiten. Dies sei unter anderem aus Sicherheitsgründen bei manchen Themen nicht möglich. Hier konnten wir auf unser neues Workshop-Format der TikTokTactics verweisen, bei dem wir aktuell planen auch einen Schwerpunkt zu Videoproduktion ohne eigenes Gesicht anzubieten. Auch die Frage, wie mit der möglichen Zensur bestimmter Themen und Schlagworte auf TikTok umgegangen werden könnte, bewegte einige Teilnehmer*innen. Denn gerade im Bereich der politischen Bildung werden oft eher sensible und kontroverse Themenkomplexe behandelt. Marcus Bösch empfahl hier eine Strategie, die sich eher auf den Aufbau einer Community konzentriert. Hier könne man oft in Nachfragen viel besser herausfinden, ob Videos angezeigt würden, als etwa über das Experimentieren mit alternativen Begriffen. Ein anderer Zuschauer wies jedoch darauf hin, dass gerade in letzter Zeit verstärkt Videos mit bestimmten Tags gelöscht würden und es durchaus sinnvoll sei, zu überlegen, mit welchen Stichworten das eigene Video versehen würde.
Fazit: TikTok verändert den Wahlkampf
Der Creator.Salon hat deutlich gemacht: TikTok ist zu einem unverzichtbaren Bestandteil des politischen Diskurses geworden, und die Parteien haben das inzwischen grundlegend verstanden. Wie Bösch jedoch anmerkte: „Deutschland ist eine alternde Gesellschaft, TikTok ist damit nicht maßgeblich für den Parteierfolg insgesamt.“ Dennoch zeigt sich, dass authentische, plattformgerechte Kommunikation, die sich stilistisch Plattformästhetiken bedient, aber politische Inhalte gut aufbereitet durchaus Erfolg haben kann.
Für die strategische Ausrichtung von zivilgesellschaftlichen Organisationen und demokratischen Initiativen scheint das Konzept der partizipatorischen Kommunikation besonders interessant: Statt nur auf eigene Reichweite zu setzen, geht es eben auch darum, sich auch die Remix-Kultur der Plattform anzueignen und Communities aufzubauen, die die eigenen Inhalte aufgreifen, weiterentwickeln und in ihre jeweiligen Netzwerke tragen.
„Erfolgreiche TikTok-Strategien setzen auf Beteiligung statt auf Konsum“, fasste Bösch zusammen. “Der nächste Bundestagswahlkampf wird nochmal KOMPLETT anders ablaufen als der in diesem Jahr. Und schon das, was 2021 auf TikTok geschah, scheint heute Lichtjahre entfernt!”
Wir freuen uns auf den nächsten Creator.Salon am 9.4.2025, 15:00 bis 17:00 Uhr. Alle Informationen dazu findet ihr rechtzeitig auf unserer Website www.tiktokslam.berlin und in unserem Newsletter.
Das Projekt TikTokSlam wird gefördert durch die Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung. Es ist Teil unserer Arbeit für eine offene, gerechte und solidarische digitale Gesellschaft.