Rückblick AntiAnti 2020-2022: Politische Medienbildung in Zeiten der Pandemie
von Fidel BartholdyEs ist eigentlich nie zu spät für einen Rückblick! Manchmal braucht es ja auch etwas Abstand, um Dinge im Nachhinein beurteilen zu können. Daher: auch wenn das neue Jahr schon ganz unsere Aufmerksamkeit eingenommen hat, schauen wir auf die letzten zwei Jahre zurück und fragen uns, was sich in unserem Projekt AntiAnti eigentlich seit 2020 getan hat. Denn die Pandemie hat auch in der Medien- und politischen Bildung Inhalte und pädagogische Zugänge verändert. Zum einen haben wir – wie so viele andere Projekte und Träger – unsere Angebote auf Online-Formate umgestellt. Wie das funktioniert hat (Spoiler: ziemlich gut!) und welche Implikationen dies auch für zukünftige pädagogische Formate haben kann, wollen wir in diesem Beitrag beleuchten. Zum anderen haben sich auch die Inhalte unserer Workshops durch die Pandemie verändert. Das Thema Verschwörungsmythen sowie dessen Bezüge zu Ideologien der Ungleichwertigkeit haben größere Relevanz bekommen und vermehrt die Notwendigkeit von Medienkompetenz als Grundlage für demokratische Teilhabe auf den Plan gerufen. In diesem Beitrag wollen wir auch nachzeichnen, wie wir das Thema für pädagogische Anknüpfungspunkte für politische Bildungsprozesse behandelt haben und was uns dabei wichtig erscheint.
Seminare online – es funktioniert!
Es ist schon fast nicht mehr vorstellbar, dass Online-Workshops und Fortbildungen vor zwei Jahren noch keine Anwendung in unserem Projekt fanden. Absprachen und Austausch im Vorfeld liefen zwar schon lange über Zoom und Co., doch die Arbeit mit Gruppen, egal ob Jugendliche oder Multiplikator*innen, fand stets in Präsenz statt. Und so sehr in Online-Workshops auch das “Gefühl für den Raum” sowie andere Dinge wie der Plausch in der Mittagspause fehlen: Interaktion, Austausch, Vermittlung und Freude lassen sich größtenteils mit den richtigen Tools und Strategien auch über den Bildschirm von zuhause erreichen. Ohne eine abschließende Liste von Tipps und Tricks anbieten zu können, wollen wir ein paar unserer Lektionen der Umstellung vorstellen und einen Einblick darin geben, wie wir über die langfristige Einbindung digitaler Begegnungen nachdenken.
Die erste Frage war die der Übertragung unseres bisherigen Angebots: Wie können erprobte Methoden ins Digitale übersetzt werden, ohne ihre Wirkung und Stärken zu verlieren? Naturgemäß ließen sich nicht alle Methoden ohne weiteres erfolgreich übersetzen, andere dafür umso besser. An vielen Stellen mussten sie entsprechend angepasst und neue Tools eingebunden werden. Es wurde schnell klar, dass die Verlinkung zu Tools und Inhalten über die Chatfunktion der zentrale Mechanismus für methodische Vielfalt ist. Video-Links, Umfragetools, kollaborative Tools und Spieleplattformen sind nur einige der Orte, die per neuem Browserfenster eine Interaktion neben dem Videocall ermöglichen. Eine gute Option für uns ist, mit einem vorher angelegten Pad wie etwa auf HedgeDoc möglich, eine ”landing page” für den Workshop zu gestalten, auf der Ablauf sowie alle Links gesammelt sind. So können die Teilnehmenden sich wie auf einem Flipchart für den Tagesablauf auch zwischendurch orientieren und für externe Tools auf die bereitgestellten Links verwiesen werden. Zudem kann diese Seite als Dokumentation dienen, die auch nach dem Workshop zur Verfügung gestellt und sogar von Dritten erweitert werden kann.
Eine zentrale Herausforderung in digitalen Workshops ist, dass (primär jugendliche) Teilnehmende manchmal nicht motiviert sind, ihre Kameras einzuschalten, was das Abschätzen der Aufmerksamkeit fast unmöglich macht. Um damit umzugehen, hat sich in unserer Praxis eine regelmäßige Abfrage der Stimmung über Emojis bewährt. Zoom etwa hat in seiner neuesten Version die Funktion “Reaktionen”, über die nicht nur Meldungen, sondern auch Zustimmung, Ablehnung und eine Bandbreite von Emojis geteilt werden können. Auf diese Weise können alle niedrigschwellig reagieren, ohne dass es eine Wortmeldung braucht. Alternativ können solche kurzen Abfragen auch über den Chat gelöst werden. Ein Effekt dieser reduzierten Form der Interaktion ist, dass auch diejenigen sich regelmäßig beteiligen können, die sich mit Wortbeiträgen (noch) nicht wohl fühlen. Richtig angewendet kann dieser Weg also sogar einen Vorteil durch eine niedrigere Schwelle zur Teilhabe bieten, der in Präsenz so nicht möglich ist.
Verbunden mit der Frage der Aufmerksamkeit ist auch die Workshop-Länge. Das Fehlen von Bewegung, gemeinsamer Pausen und den kleinen Momenten neben dem Geschehen macht die Interaktion dichter und kann leicht dazu führen, dass Zoom Fatique, also die Ermüdung durch Video-Konferenzen, eintritt. Es bietet sich zugunsten von Leitenden und Teilnehmenden an, Workshop-Tage kürzer zu gestalten als Präsenztage. Außerdem können längere Pausen und möglichst viele verschiedene methodische Elemente eingebaut werden. Gerade bei schweren Themen wie Diskriminierung, Ideologien der Ungleichwertigkeit und anderen können offene Diskussionen schnell dazu führen, einen Teil der Gruppen zu verlieren. Abwechslung und verschiedene Wege des Ausdrucks fernab der Meldung im Plenum sind also essenziell, um der Situation und den Teilnehmenden gerecht zu werden. Dazu gehört natürlich Gruppenarbeit in parallelen Räumen (Breakout Sessions). Diese hat in unserer Erfahrung keine relevanten Nachteile gegenüber Gruppenarbeit in Präsenz und es gelingt in der Regel, dass sich mehr Teilnehmende als im Plenum beteiligen; schwarze Kacheln füllten sich manchmal erst dann mit Gesichtern, als es in die kleine Gruppe ging. Wichtig ist hier in unserer Erfahrung, den Modus der Gruppenzuordnung klar zu gestalten, um nicht in stressige Situationen zu kommen. Bei Wahlgruppen ist ein kleiner Kniff, dass sich die Teilnehmenden per Umbenennen des Namens (z.B. 1_Name, 2_Name) den Gruppen zuteilen; so können sie schnell und ohne mündliche Kommunikation zugeordnet werden, da (in unserem Falle) Zoom sie nach Namen in der Teilnehmendenliste anordnet.
Aber auch das ist wahr: Nach zahlreichen, zumeist erfolgreichen Online-Workshops und vielen Lernerfahrungen freuen wir uns wieder sehr über Workshops in Präsenz, solange diese möglich sind. Die Option des Online-Seminars bleibt aber eine sinnvolle und flexible Ergänzung der Möglichkeiten und eine wertvolle Alternative. Für mehrtägige oder regelmäßige Seminare kann es etwa sinnvoll sein, einzelne Tage oder Einheiten per Videocall zu gestalten. Damit kann kann der koordinative Aufwand sowie eine lange oder teure Anreise wegfallen. Aufwendiger, aber mit der richtigen Ausstattung unproblematisch sind auch hybride Formate, in denen Teilnehmende sowohl in Präsenz als auch digital teilnehmen können. So haben wir zum Beispiel einzelne Fortbildungen online gegeben, während die Teilnehmenden sowohl vor Ort als auch per Videocall dabei waren.
Die erzwungene Umstellung hat zur Entwicklung zahlreicher neuer Tools sowie der größeren Verbreitung bestehender geführt, neue Orte der Begegnung geschaffen und auch unser Repertoire nachhaltig bereichert. Viele dieser neuen Tools können auch in Präsenz genutzt werden und gerade bei der Auseinandersetzung mit medienpädagogischen Themen auch dort eine sinnvolle Ergänzung sein. Allgemein lässt sich eine kollektive Lernerfahrung im Umgang mit digitalen Tools in diversen Bildungskontexten beobachten, die längst ausstand.
Medienkompetenz und die Gefahr von Verschwörungsmythen
Eine weitere Entwicklung in unserer Projektarbeit, die den gesellschaftlichen Umständen seit 2020 folgt, ist die verstärkte Auseinandersetzung mit dem Phänomen Verschwörungsmythen. Bereits vor der Pandemie setzten wir uns mit der Verbreitung solcher Erzählungen und ihrer strukturellen Nähe zu Antisemitismus sowie ihrer Anschlussfähigkeit für Ideologien der Ungleichwertigkeit auseinander. Der rechtsextreme Verschwörungsmythos des “großen Austauschs” beispielsweise verbindet Rassismus und Antisemitismus mit weiteren Elementen rechtsextremer Einstellungsmuster. An ihm arbeiteten wir in Workshops das Thema Ethnopluralismus auf, das im Kern vermeintlich neuer rechtsextremer Strömungen und Organisationen wie der Identitären Bewegung liegt.
Mit der explosionsartigen Verbreitung bestehender und der Mutation neuer Verschwörungsmythen, die mit der weltweiten Ausbreitung des Coronavirus einen potenten Träger und Katalysator fanden, intensivierte sich auch unsere pädagogischer Arbeit zum Thema. Workshops und Fortbildungen zum Phänomen Verschwörungsmythen wurden zu einem gefragten Angebot. Unser Dossier “Verschwörungsmythen, (Online-) Radikalisierung und die Coronavirus-Pandemie” vom April 2021 beschreibt das Phänomen und Zugänge, die wir nach einem Jahr Pandemie gesammelt haben. Es stellt heraus, dass Verschwörungsmythen vermehrt als Quelle für politische Meinungsbildung dienen und letztlich als Ausgangspunkt und Verstärker für Radikalisierungsprozesse fungieren. Nicht nur in Deutschland übersetzte sich die Ablehnung von Einschränkungen des öffentlichen Lebens und Skepsis gegenüber Schutzimpfungen an vielen Stellen in eine Ablehnung aller politischen Institutionen, des Gesundheitssystems und “des Systems” im Allgemeinen. Rechtsextreme und andere demokratiefeindliche Bewegungen wie Querdenken nutzen die Verunsicherung und angespannte Lage, um neue Sympathisant*innen zu finden. Verschwörungsgläubige wie Xavier Naidoo oder Attila Hildmann wiederum übernahmen verstärkt rechtsextreme und antisemitische Positionen und verbreiteten diese öffentlichkeitswirksam über soziale Medien. Telegram-Kanäle etablierten sich neben Facebook-Gruppen zu Orten, an denen Missmut, Unsicherheit und Angst in Radikalisierungsprozesse gegen die demokratische Ordnung übersetzt wurden. Rechtsextreme, Islamist*innen und Antisemit*innen nutzen die Situation also dafür, ihre Ideologien der Ungleichwertigkeit vor dem Hintergrund der Pandemie zu verbreiten, an die Angst anzuknüpfen und neue Mobilisierungspotenziale zu nutzen. Das diverse Publikum sogenannter “Hygienedemos” etwa illustriert zwei Punkte: Einerseits, wie Rechtsextreme über ihre strategische Nutzung von verschwörungsideologischen Erzählungen erfolgreich geschafft haben, Diskurse zu ihren Gunsten zu verschieben und mehr Akzeptanz zu gewinnen. Andererseits, wie anfällig Gesellschaften dafür sind, Erfahrungen der Ohnmacht und Überforderung sowie (latente) autoritäre Einstellungsmuster in unterkomplexe Erklärungen zu übersetzen und ideologisch zu besetzen. Es wurde deutlich, wie eng der Glaube an Verschwörungsmythen und autoritäre Weltbilder zusammenhängen.
Damit liegen diese Entwicklungen genau in unserem Handlungsfeld, das sich zwischen Medienpädagogik, politischer Bildung und Primärprävention bewegt. Gerade das Feld der Medienkompetenz hat angesichts vermehrter politischer Meinungsbildung auf sozialen Medien seit der Pandemie an Bedeutung gewonnen. In unserer pädagogischen Praxis sowohl mit Jugendlichen als auch mit Erwachsenen arbeiten wir zu der Rolle von vermeintlichen Verschwörungen und Fake News für Radikalisierungsprozesse sowie deren Umgang damit. Die Mehrheit war bereits mit Aussagen wie “Corona ist eine Biowaffe” oder “die Impfung ist ein Instrument der Eliten” in Kontakt und lehnen sie ab. Doch ein Verständnis dafür, wie subtil Verschwörungsmythen das Denken und Fühlen beeinflussen können, wie effektiv sie an die berechtigte Wahrnehmung von sozialer Ungerechtigkeit anschließen und wie leicht sie soziale Beziehungen auf die Probe stellen, erfordert oft eine vertiefende Auseinandersetzung. Unsere Zugänge und Methoden entwickeln sich stetig weiter, besonders im Austausch mit Kolleg*innen und durch praktische Erfahrungen. Inhaltlich sind in unseren aktuellen Angeboten drei Schritte relevant:
- Erstens ist die Grundlage für die Bearbeitung des Themas, Funktionsweisen und Elemente von Verschwörungsmythen zu benennen. Über Inputs, Analyse bekannter Verschwörungsmythen und das pädagogisch angeleitete Erstellen eigener Mythen (im Original veröffentlicht von Bildungsbausteine e.V.) arbeiten wir gemeinsam heraus, wie sich das Phänomen eingrenzen lässt. Dazu gehört auch die Frage, welche psychologischen Funktionen der Glaube daran erfüllt.
- Zweitens geht es in einem weiteren Schritt um die Nähe dieser Erzählungen zu menschenfeindlichen Weltbildern und den gesellschaftlichen Gefahren ihrer Verbreitung. Schwerpunkt ist hier die Verwicklung solcher Erzählungen mit historisch gewachsenen antisemitischen Vorurteilen (jüdische Finanzelite, Rothschild, Marionettenspieler, Kraken etc.) sowie die Anschlussfähigkeit zu rechtsextremen Einstellungsmustern.
- Drittens üben und reflektieren wir den Umgang mit Aussagen und möglicher Radikalisierung. Wie kann ich auf problematische Aussagen von Schüler*innen, Familienmitgliedern oder Kolleg*innen reagieren? Und wie, wenn ich ihnen auf sozialen Medien begegne? Wo kann ich Informationen überprüfen und Unterstützung suchen, wenn ich selbst verunsichert bin?
Aus unseren Erfahrungen in Workshops und Fortbildungen wird immer wieder deutlich, dass der Glaube an Verschwörungsmythen kein spezifisches Problem von jungen Menschen ist. Oft gibt es bei 14 bis 21-Jährigen bereits Erfahrungswerte mit Hate Speech, Falschmeldungen und Verschwörungsmythen auf sozialen Medien, was einer möglichen Radikalisierung vorgreifen und präventiv wirken kann. Doch besteht an vielen Stellen eine Unklarheit darüber, welche Nachrichtenquellen vertrauenswürdig sind und wo sie sich von Meinungsäußerung und Satire unterscheiden. Vertreter*innen offen menschenfeindlicher und grotesker Ausprägungen wie Attila Hildmann werden teilweise mit einer ironischen Distanz betrachtet und eher als Quelle der Belustigung denn als Gefahr für die Demokratie wahrgenommen. Das Bewusstsein für die Gefährlichkeit ist in diesen Fällen ein wichtiges Lernziel.
Anfragen von Lehrkräften und anderen pädagogischen Fachkräften zeigen uns, dass ein wachsender Bedarf daran besteht, die Interpretation und politische Einordnung von Information in digitalen Räumen pädagogisch zu behandeln. Herausfordernd ist für alle auch weiterhin die Priorisierung und Konkretisierung von Zugängen in einer unübersichtlichen Lage; zwischen Algorithmen der Plattformen, Netzpolitik, Hate Speech, Professionalisierung beispielsweise rechtsextremer Akteure, der Verbreitung politisch motivierter Falschnachrichten und Verschwörungsmythen, Polarisierung der gesellschaftspolitischen Diskurse, generationalen Unterschieden in der Medienrezeption und vielen weiteren Aspekten stellt sich die Frage, wie Bildungsarbeit mit Jugendlichen an ihre Lebenswelten anschließen und funktionieren kann.
Um den gesellschaftlichen Herausforderungen rund um das Thema Verschwörungsmythen zu begegnen, braucht es also eine enge Verknüpfung von Medien- und politischer Bildung für alle Altersgruppen. Die letzten zwei Jahre haben uns gezeigt, dass diese notwendigen Bildungsprozesse auch in digitalen Räumen erfolgreich stattfinden können.